Oder sollte ich lieber schreiben: Der dichtende Werkzeugmacher vom Niederrhein? Es gäbe viele Beinamen, die zu Dinçer Güçyeter passen. Er selbst hat es in einem Gedichtband mal so formuliert: Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Wie Güçyeter zu dem wurde, was er heute alles ist, zeichnet er in seinem ersten Roman Unser Deutschlandmärchen nach. Marco, Jenni und ich werden den Familienroman in der nächsten Folge des MikroBuchs besprechen.
Die Reise nach Deutschland
Dinçer Güçyeter hat 2023 für diesen Roman den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhalten. Im Text zeichnet er das Porträt seiner Familie, indem er seine eigene autofiktionale Stimme in ein Wechselspiel mit den weiblichen Stimmen seiner Familie bringt. Er lässt diejenigen sprechen, die sonst schweigen. In Träumen, Gebeten, Chören, Dialogen und anderen Gesprächsformen spricht der Dinçer aus dem Roman mit seiner Mutter Fatma, lässt aber auch seine Grossmutter Hanife zu Wort kommen. Diese wiederum ist die Tochter Ayşes, die ursprünglich aus Griechenland kam und nach dem Türkisch-Griechischen Krieg aus ihrer bisherigen Heimat vertrieben wurde. Auch deren weibliche Nachfahren müssen ihre Heimat verlassen. Fatma verlässt zunächst das ländliche Anatolien, um mit der verwitweten Mutter und den Geschwistern in die Stadt zu ziehen. Schliesslich muss Fatma auf Wunsch der Familie zu ihrem zukünftigen Mann ziehen, welcher als Gastarbeiter in Deutschland lebt. Dort arbeitet sie viel, in der Fabrik und auf dem Feld, oft in mehreren Schichten. Sie arbeitet, bis sie krank wird und gibt doch nicht auf. Der Vater führt glücklos eine Kneipe.
Nach vielen Jahren wird ihr Kinderwunsch endlich erfüllt. Dinçer kommt in Nettetal am Niederrhein zur Welt. Bis zum Schuleintritt wächst er in einem rein türkischen Umfeld auf, wird aber schnell zum sprachlichen Vermittler, ohne sich selbst je eindeutig zuordnen zu können oder zu wollen. Diese Suche nach der eigenen Sprache bleibt ein kontinuierlicher Prozess.
Die Reise zum Selbst
Nichts wünscht sich die aufopfernde Mutter mehr, als dass ihr geliebter Sohn ihr mit Stärke und Fleiss zur Seite stehen kann. Endlich hat sie jemanden, der sie beschützen kann. Das hat ihr Mann nicht geschafft. Mit dieser traditionellen Erwartungshaltung hadert Dinçer. So ein Mann will er nicht werden. Die Männer der Familie und dem näheren kulturellen Umfeld taugen nämlich nicht als Vorbild (was noch ziemlich euphemistisch umschrieben ist). Der Dinçer aus dem Roman schreibt in einem zentralen Text des Buches:
„Vielleicht deshalb werde ich für dich immer auch eine Enttäuschung sein. Je mehr du verhüllt hast, desto nackter wollte ich mich zeigen, je mehr du besitzen wolltest, desto verschwenderischer war ich mit allem. Je mehr du Wurzeln schlagen, dir ein Stück Sicherheit pachten wolltest, desto näher am Rand, am Abgrund ging ich meinen Weg. Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt. So blieb ich in deinen Augen ein wenig halb, ein wenig machtlos, ein kleiner Versager!“
(Güçeyter, „Ich, dein Sohn, deine Enttäuschung“, in: Unser Deutschlandmärchen, S. 166)
Analyse und weitere Informationen
Aber ist es vielmehr nicht so, dass er seiner Mutter Fatma gerade dadurch zur Seite stehen kann, weil er ihr mit dem Roman endlich eine eigene Stimme gibt? Nicht, wie sie es erwartet hat, aber so, dass auch Dinçer sich in seiner Rolle zurechtfindet. Oder klingt das alles zu märchenhaft? Diesen und viele andere interessante Aspekte aus diesem Roman besprechen wir im nächsten MikroBuch.
Wer sich einen kurzen Eindruck vom Autor und seinem künstlerischen Selbstverständnis machen will, kann sich dieses Video anschauen.
Der Roman ist bei Mikrotext erschienen und als Hardcover wie auch als E-Book erhältlich. Wir danken dem Verlag, dass er uns kostenlose Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt hat.