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Der Mensch lebt nicht vom Lob allein

«Der Applaus des Sonnendecks reicht für den Maschinenraum schon lange nicht mehr.» Mit diesem Appell endet Barbara Blahas Nachwort zu Luna Al-Mouslis neuem Buch Klatschen reicht nicht. Dieses besteht aus einer Sammlung von Interviews mit Menschen aus systemrelevanten Berufen. Sie berichten von ihren Arbeitserfahrungen während der Corona-Pandemie.

Der Applaus ist verhallt

Mit ihrem neuen Buch will die Wiener Autorin all denen eine Stimme geben, die zwar im Frühling 2020 freundlich beklatscht und dennoch von der Gesellschaft wenig geschätzt werden. Letzteres äussert sich in einem niedrigen Gehalt und sozialer Unsichtbarkeit. Daran hat auch das gefällige Klatschen im Frühling 2020 vom Balkon nichts geändert. Damit wurden nämlich weder Überstunden abgebaut noch erholsame Ferien finanziert. Wenn etwas abgebaut wurde, dann waren es Intensivbetten. Auffällig und überhaupt nicht zufällig ist dabei, dass in Österreich 65 % dieser Menschen in systemrelevanten Berufen Frauen sind und zu einem großen Teil Migrationshintergrund haben.

Der Systemrelevanz eine Stimme geben

Al-Mouslis Interviewpartner wischen junge und alte Popos sauber, sie räumen Regale ein, sie hören zu, sie räumen auf, sie bringen Essen und alles, was wir mit einem bequemen Klick bestellen und bezahlen. Alle interviewten Personen arbeiten und leben in Wien. Da es Al-Mousli gerade auch auf die Vielzahl an Perspektiven ankommt, habe ich der Versuchung, die Perspektiven zusammenzufassen und damit auch zu verkürzen, widerstanden. Es folgt deshalb die vollständige Liste derer, die im Buch zu Wort kommen:

  • Hala, 44, Muttersprachen- und Hilfslehrerin in einer Neuen Mittelschule
  • Diana, 29, Betreuerin in einer privaten Kinderwohngemeinschaft
  • Christopher, 33, Postbeamter
  • Aynur, 40, Heimhelferin
  • Hussein, 25, Eisenbieger
  • Nathalie, 29, Mitarbeiterin der AMS-ServiceLine (so nennt sich in Österreich der Service für Arbeitssuchende)
  • Antonia, 53, Leiterin der Telefonseelsorge
  • Maria, 58, Sozialarbeiterin im Frauenhaus
  • Somia, 53, mobile Sozialassistentin und Beraterin für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung
  • Stefan, 31, Mitarbeiter und Führungskraft in einer Lebensmittelhandelskette
  • Mohammad, 21, freiwilliger Sanitäter beim Roten Kreuz
  • Katrin, 28, Ergotherapeutin
  • Ahmad, 29, Lagerarbeiter
  • Ali, 25, Fahrradbote bei einem Essenslieferdienst
  • Ani, 59, Pflegeassistentin im Altersheim
  • Sesilia, 28, Kindergartenpädagogin
  • Nana, 30, Psycho-soziale Fachbetreungsperson
  • Leokadia, 22, Sozialarbeiterin in der Obdachlosenhilfe
  • Lisa, 46, Krankenschwester

Ergänzt werden die Portraits durch Stellungnahmen aus medizinischer und psychologischer Sicht. Die zahlreichen Illustrationen stammen von Clara Berlinski. Zitate aus den Interviews und Statistiken setzen die Einzelerfahrungen in ihren strukturell-gesellschaftlichen Kontext. Mit einer Gesellschaft, die ihre Systemheldinnen und Systemhelden derart schlecht behandelt, muss etwas nicht stimmen. Strukturell erinnern viele Aussagen an die Erkenntnisse Linda Scotts aus «Das weibliche Kapital».

Wo bleibt die materielle Anerkennung?

Marco, Anna und Barbara werden das Buch in der letzten MikroBuch-Ausgabe des Jahres 2021 besprechen. Wir danken dem Leykam-Verlag, dass er uns die Rezensionsexemplare kostenlos zur Verfügung gestellt hat.

Da wir drei den Begriff «systemrelevant» bis Corona in erster Linie mit den Krisen im Finanzsektor in Verbindung gebracht haben, fragen wir uns, wo denn der Stabilisierungsfonds für die Angestellten in Pflege, Betreuung und Versorgung bleibt. Die Google-Trends machen leider wenig Hoffnung. Wie seht Ihr das? Was muss geschehen, damit diese Menschen die materielle Anerkennung erhalten, die sie verdienen?

Barbara Bohr
Barbara Bohr

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Category MikroBuch
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