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Posts tagged as “Carolin Amlinger”

Fetisch Freiheit

Das Buch war letzten Herbst der Liebling der deutschsprachigen FeuilletonsGekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Jenni, Marco und Barbara haben das Fachbuch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey über die Winterpause ebenfalls gelesen und werden es in der 36. Folge der MikroBuch-Reihe vorstellen.

Libertärer Autoritarismus

Was ist libertärer Autoritarismus überhaupt? Ist der Begriff nicht ein Oxymoron? Auf der einen Seite bezeichnet er das unbedingte Streben nach Freiheit, wie es typisch für den Libertarismus ist. Auf der anderen Seite scheint es dann doch die Akzeptanz einer übergeordneten Instanz zu geben. Amlinger und Nachtwey spüren in ihrem Buch diesem Gegensatz nach und zeigen, wie libertäres und autoritäres Denken zusammenspielen. Dadurch wird persönliche Freiheit als ultimative Autorität gedeutet. So definieren die beiden gleich zu Beginn:

Libertär ist ihr Autoritarismus, weil er eine Abwehr gegen jede Form der Einschränkung individuellen Verhaltens darstellt. In ihm wirkt eine negative Freiheitsidee fort, in der sich das Individuum im Gegensatz zur gesellschaftlichen Ordnung verortet. Die libertären Autoritären identifizieren sich nicht mit einer Führerfigur, sondern mit sich, ihrer Autonomie.

(Seite 17)

Wer macht da mit?

«Libertär autoritär» klingt als Begriff eben nur auf den ersten Blick sperrig. Nach der Definition des Basler Soziologen-Paares beschreibt er Menschen, die in den letzten Jahren viel Raum in der öffentlichen Debatte gewonnen haben. Oft sind es Personen, die im Zuge der Individualisierung unserer Gesellschaft enttäuscht und überlastet sind. Daher kommt auch der titelgebende Ausdruck der «gekränkten Freiheit». Diese Enttäuschung äußert sich in negativen Affekten, als «Scham, Zorn, Groll und Ressentiment» (Seite 21) gegenüber den Institutionen und dem sogenannten Mainstream.

Wir begegnen diesen Affekten tagtäglich. Da ist der Kollege, der von sich behauptet, dass er der Schulmedizin nicht (mehr) traue. Er schimpft auf die Politik, die unter der Knute der Pharma-Industrie stehe, und will fortan eine rechte Partei wählen. Da ist die Verwandte, die gleichzeitig in der Klima-Bewegung aktiv ist und sich nicht impfen lassen will. Prominente begegnen uns in zahlreichen Talk-Shows und Medien, die sich bewusst «dagegen» positionieren wollen. Wir kennen sie als Querdenker, Corona-Protestierende oder radikalisierte Menschen aus dem esoterischen Milieu.

Vorgehen der Studie

Amlinger und Nachtwey analysieren diese Bewegung, indem sie eine Online-Umfrage mit 1150 Querdenkern und Querdenkerinnen sowie 45 ausführliche Interviews durchführen bzw. auswerten. Außerdem haben sie Teilnehmende während Demonstrationen beobachtet und einschlägige Telegram-Kanäle gelesen. Zugleich betten Autor und Autorin ihre qualitativen Analysen in ein mächtiges theoretisches Fundament ein. Sie zielen nämlich darauf ab, durch ihre Auswertungen den Autoritarismus- und Freiheitsbegriff der Kritischen Theorie zu erweitern.

Diskussion

Wie gut dies den beiden gelungen ist und welchen Beitrag die Studie somit für die öffentliche Diskussion rund um das Querdenkertum leistet, wollen wir in der nächsten Folge des MikroBuches diskutieren. 

Wer keine Zeit mehr hat, das Buch vor der Sendung zu lesen, kann sich mit dieser Podcast-Folge des FAZ Bücher-Podcasts in die Studie und ihre Ergebnisdiskussion eindenken. Patrick Bahners hat hier Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey während der Frankfurter Buchmesse 2022 interviewt. 

Wir danken dem Suhrkamp-Verlag, dass er uns digitale Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt hat. Die Zitate in diesem Text beziehen sich auf die Druckfahne der 1. Auflage.

Barbara Bohr
Barbara Bohr

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