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Künstliche Intelligenz und Kai-Fu Lees Kunst des Krieges

«Wenn Daten das neue Öl sind, dann ist China das neue Saudi-Arabien.» Mit dieser Einschätzung beschrieb Thomas Friedman in einer Kolumne der New York Times die technologische Aufholjagd Chinas gegenüber den USA. Lassen wir an dieser Stelle mal außen vor, wie schmeichelhaft oder treffend der Vergleich mit Saudi-Arabien ist. Tatsache ist, dass China nicht mehr nur die Copycat der westlichen Welt ist, sondern viele innovative Ideen im Bereich der künstlichen Intelligenz entwickelt hat und diese im großen Stil im eigenen Land einsetzt. Eine wichtige Quelle für Friedmans Aussage bildet Kai-Fu Lees Buch AI Super-Powers. China, Silicon Valley and the New World Order (2018). Vor kurzem ist das Buch beim Campus-Verlag auch in deutscher Übersetzung erschienen, weshalb wir es nun in der nächsten Ausgabe des MikroBuchs besprechen.

KI-Forscher und Manager

Kai-Fu Lee wurde 1961 in Taiwan geboren und ging bereits für den Besuch der High School in die USA. Er studierte dort Informatik und spezialisierte sich auf Themen der künstlichen Intelligenz, insbesondere der Spracherkennung. Er verliess die akademische Karriere 1990, um bei Apple als Forschungsleiter einzusteigen. Nach einem Zwischenstunt bei Silicon Graphics ging er zu Microsoft, u.a. um deren Forschungsstandort in Beijing aufzubauen. Das gelang ihm mit grossem Erfolg. Zu Google kam er 2005, um diesen Erfolg zu wiederholen:  Bekanntermassen verlief diese Aufgabe weniger erfolgreich. Nur wenige Monate nach Lees Weggang entzog Google seine Server der chinesischen Zensur, indem die Firma sie nach Hongkong umsiedelte. Lee arbeitet seither als Risikokapitalgeber für Projekte im KI-Bereich in Beijing. Seine Firma heisst Sinovation Ventures. Kai-Fu Lee hat also mehrfach bewiesen, dass er sich technisch und betriebswirtschaftlich mit Themen der künstlichen Intelligenz auskennt. Wer sich ausführlicher mit seiner interessanten Karriere und dem Ehrgeiz, der ihn antrieb, beschäftigen möchte, kann dies in seiner Autobiografie nachlesen.

Chinas Vorteil: OMO ( = «Online merges offline»)

Der Titel des Buches ist Programm und entspricht Friedmans Schlussfolgerung: Wenn die westliche Welt, genauer das Silicon Valley, nicht aufpasst, wird China sehr bald die globale Führungsrolle im Bereich künstliche Intelligenz übernehmen. Um seine These zu erläutern, erklärt Lee uns westlichen Lesern zunächst einmal ausführlich die Entwicklung des chinesischen IT-Marktes, von der Copycat hin zum Aufbau eines eigenständiges Internet-Universums, in dem die Grenzen zwischen Online- und Offline-Welt bereits heute viel stärker verwischen als in der westlichen Welt. Eine grosszügige Unterstützung durch die Regierung, eine strenge Kontrolle durch eben diese sowie ein immens hohes Datenaufkommen helfen dabei, den technologischen Vorsprung auszubauen.

Die vier KI-Wellen

Lee teilt die Entwicklung der KI in vier Wellen ein:

  1. Internet-KI: Algorithmen optimieren die Internet-Nutzung (Empfehlungen, Automatisierungen, Personalisierung) für persönliche und berufliche Anliegen
  2. Business-KI: Dank Datamining werden in den vorhandenen, unstrukturierten Datenmengen versteckte Korrelationen entdeckt und für das eigene Geschäft genutzt (alle Arten von Predictive Analytics, wie Kreditzusagen, Betrugsüberwachung, Kontrolle des sozialen Verhaltens, Optimierung von Gerichtsurteilen etc.)
  3. Wahrnehmungs-KI: Diese Phase ist gekennzeichnet durch eine Verwischung der Grenzen zwischen digitaler und physikalischer Welt. Algorithmen. Sensoren und andere smarte Geräte machen es möglich, dass Algorithmen Objekte aus der realen Welt erkennen. So erkennt mich der Einkaufswagen dank Gesichtserkennung im Supermarkt. Da er meine Vorlieben schon kennt, macht er mir passende Vorschläge für das Abendessen. Lee spricht an dieser Stelle von OMO-scenarios (online merges offline).
  4. Autonome KI: Das ist die letzte entscheidende Phase, in der es nicht mehr nur um Automatisierung geht, sondern darum, dass Maschinen autonom Entscheidungen treffen. Als Beispiel nennt er die Drohnen-Entwicklung, in der er China schon heute in der Führungsrolle sieht. Er sieht einen Vorteil Chinas auch darin, dass das Land weniger historischen Ballast mit sich herumschleppt. Notfalls wird eben Bestehendes umgebaut oder gleich eine neue KI-Stadt gebaut:


«In den Vereinigten Staaten wird davon ausgegangen, dass selbstfahrende Autos passend zu den bestehenden Straßen gebaut werden müssen, weil diese unveränderlich seien. In China herrscht die Auffassung vor, dass sich alles ändern kann – einschließlich des bestehenden Straßennetzes. Tatsächlich rüsten lokale Amtsträger schon heute bestehende Autobahnen um, organisieren Transportabläufe neu und richten städtebauliche Maßnahmen auf fahrerlose Autos aus.» (Kai-Fu Lee, AI Super-Powers, S. 178)

«Der grösste Krieger ist der, der niemals kämpfen muss.»

So weit, so gut. China macht also voran. Darauf ist Kai-Fu Lee enorm stolz. Und ohne euch spoilern zu wollen, manche seiner Beispiele sind richtig «wow». Doch was bedeutet diese rasante Entwicklung für China selbst, für die USA und die westliche Welt? Die NZZ schrieb kürzlich schon, dass in Washington angesichts der chinesischen Dominanz schon die Alarmglocken schrillen. Was wird aus unseren Arbeitsplätzen, wenn Maschinen sie für uns erledigen? Wo bleiben wir als Menschen? Lee hat einige überraschende Vorschläge, die wir miteinander diskutieren werden. Insbesondere werden wir auch ein Thema aufnehmen, dem Lee wenig Beachtung schenkt: Was ist mit der Demokratisierung Chinas? Auf Twitter führt Marco einen Thread zu Zensur- und Überwachung in China.

Wer mitdiskutieren möchte:

Wer keine Zeit hat, das Buch zu lesen, kann sich dieses ausführliche Interview auf «60 Minutes» mit Kai-Fu Lee anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=_6Fm3q7R8iQ Für Audio-Freunde und -Freundinnen empfehle ich das Interview von Kara Swisher mit ihm: https://www.stitcher.com/podcast/vox/recode-decode/e/56285084

Und hier gibt es das Buch zu kaufen:

Wir danken dem Campus-Verlag für die Rezensionsexemplare.

Barbara Bohr
Barbara Bohr

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