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Unterschichtenprojekt Kapitalismus?

Werner Plumpe hat in seinem Buch Das kalte Herz (2019) die Geschichte des Kapitalismus aufgezeichnet. Sein Plädoyer fällt positiv und  gleichzeitig herzerwärmend aus, denn sein Buch widmet sich dem Nachweis der These, dass der Kapitalismus «von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen» (S. 639) war. Stimmt das so? Marco, Anna und Barbara gehen dieser Frage in der nächsten Buchbesprechung bei den Mikroökonomen nach.

Ausgangspunkt Kapitalismuskritik

Mit dem Thema «Kapitalismusgeschichte» haben wir uns ganz schön viel Arbeit eingebrockt: Die Kapitel des Buches umfassen insgesamt 640 Seiten, die wir in den Weihnachtsferien und dem dunklen Januar lesen durften. Nicht zu vernachlässigen sind auch die 66 Seiten eindrucksvoller Fussnoten und über 50 Seiten Literaturverzeichnis, die Plumpe in den Anhang steckt.

Der Frankfurter Wirtschaftshistoriker knüpft mit seinem Titel an Wilhelm Hauffs Märchen «Das kalte Herz» von 1827 an. Das kennen die meisten von uns wohl in seiner DEFA-Verfilmung (1950, Regie: Paul Verhoeven). Im Märchen tauscht der arme Schwarzwälder Köhler Peter beim Teufel, personifiziert durch den Holländer-Michel, sein Herz gegen Reichtum ein. Peters Herz wird zu Stein, das ihm nach einiger Zeit aber so schwer wird, dass er sein Herz wieder zurückhaben will. Hauffs Märchen, in dem die traditionelle und von Knappheit gezeichnete Welt des Schwarzwalds auf das maßlose,  kapitalistische Holland der damaligen Zeit trifft, gilt als Beispiel einer frühen Kritik an der neuen Wirtschaftsform Kapitalismus (S. 13, s. auch Rezension von Iris Prodöhl). Es ist genau diese Kapitalismuskritik, die Plumpe immer wieder als Ausgangspunkt nimmt, um sie zu widerlegen und den Kapitalismus als Erfolgsgeschichte darzustellen.

Die Geschichte des Kapitalismus in fünf Kapiteln

In fünf ausführlichen Kapiteln zeichnet Plumpe die Entstehung des Kapitalismus nach. Im ersten Kapitel spielen die Bevölkerungsentwicklung und Verstädterung in den Niederlanden und Grossbritannien sowie die vergleichsweise freiheitlichen Regeln des Wirtschaftens eine zentrale Rolle für die Entstehung früher kapitalistischer Strukturen. Das zweite Kapitel ist dem langen 19. Jahrhundert gewidmet, in dem sich die Dynamik des Kapitalismus vor allem durch das Transportwesen enorm weiterentwickeln konnte. Kapitel 3 beschreibt, wie der Kapitalismus «zwischen Kriegen und Krisen» fast unter die Räder kam, so dass Plumpe dann im vierten Kapitel den neuen Höhenflug des Kapitalismus aufgrund der wirtschaftlichen und politisch-kulturellen Dominanz der USA in der Nachkriegszeit umso beeindruckender darstellen kann:

«Dazu trug maßgeblich die Werbung bei, vor allem die amerikanische, die immer mehr die Angestelltenfamilie mit Auto, Haus und lachenden Gesichtern zum Ausdruck des amerikanischen Traums und der amerikanischen Zukunft machte«

Werner Plumpe, Das kalte Herz, Hamburg: Rowohlt, 2019, 337.

Kapitel 5 skizziert die weitere Liberalisierung der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten. Das geht nicht, ohne einen Blick auf den Finanzmarktkapitalismus zu werfen. Erst jetzt geht der Blick auch weniger sporadisch auf das, was wirtschaftlich ausserhalb Europas passiert. Ebenso kommentiert er den derzeitigen Strukturwandel. Zu den Erfolgen des Kapitalismus zählt nämlich auch die «Verfleissigung» (S.106) der einfachen Leute, die angesichts der Automatisierung zahlreicher Arbeitsprozesse nicht mehr so einfach fortgeschrieben werden kann.

Die Wirtschaftsform mit der «höchsten Problemlösungselastizität«

Das letzte und sechste Kapitel ist fast schon ein Buch oder Essay für sich, weil es die derzeitige Situation des Kapitalismus gesamthaft bewertet. Plumpe entwirft in diesem letzten Kapitel zusammenfassend ein dynamisches Bild einer Wirtschaftsform, die sich immer wieder neu erfindet. Plumpe nennt den Kapitalismus deshalb eine «emergente Art des Wirtschaftens» (S. 619), die sich auch zukünftig weiterentwickeln kann, weil sie die «höchste Problemlösungselastizität» (S. 638) biete. Der Kapitalismus bleibt also alternativlos. Diese Wirtschaftspraxis ist ausserdem die effizienteste Form, diejenigen Menschen, die nicht auf Reichtum und Vermögen zurückgreifen können, mit Gütern zu versorgen (S. 639). Deshalb kommt Plumpe zum Schluss:

Das kalte Herz, die unbarmherzige Variations- und Selektionsdynamik des Kapitalismus, die nur nach ökonomischem Erfolg bewertet und von allen sozialen, ethischen, politischen, ästhetischen und ökologischen Gesichtspunkten absieht, soweit sie nicht preis- und zahlungsrelevant sind, ist im Ergebnis allen Formen vermeintlicher Warmherzigkeit vorzuziehen, die nicht halten, was sie leichtfertig versprechen.

Werner Plumpe, Das kalte Herz, Hamburg: Rowohlt, 2019, S. 639.

Was haltet Ihr davon? Was spricht gegen dieses Fazit? Marco, Anna und Barbara werden miteinander besprechen, ob wir die faktenreiche Argumentation, die zu Plumpes Schlussbewertung führt, so teilen können.

Wir danken dem Rowohlt-Verlag, dass er uns nicht nur die elektronische Version des Buches kostenlos zur Verfügung gestellt hat, sondern auch allen die Hardcover-Ausgabe. Das hat die Lektüre wesentlich erleichtert.

Das Kalte Herz bei Buch7.

Barbara Bohr
Barbara Bohr

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Category MikroBuch
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